Sleeping in my Skin
Mein Kopf spielt Erinnerungen an ein Theaterstück von Yasmin Reza ab, es heißt Kunst: Drei Männer sind zu sehen, die bei einem Abendessen sitzen. Einer von ihnen hat in einer Galerie eine weiße Leinwand mit einem weißen Strich darauf gekauft. Er hat dafür zigtausend Euro gezahlt.
Mein Kopf spielt Erinnerungen an ein Theaterstück von Yasmin Reza ab, es heißt Kunst: Drei Männer sind zu sehen, die bei einem Abendessen sitzen. Einer von ihnen hat in einer Galerie eine weiße Leinwand mit einem weißen Strich darauf gekauft. Er hat dafür zigtausend Euro gezahlt.
Ich sehe in dem Esszimmer des Mannes aber kein weißes Bild mit einem weißen Strich an der Wand, sondern projiziere ein Bild von Lucio Fontana, das im Folkwang Museum Essen hängt, in die Szene. Eine weiße Leinwand mit drei oder vier Messerschnitten im Zentrum. Immer, wenn ich vor diesem Bild stehe, denke ich mir: Was soll das? Genauso wie einer der Männer in dem Theaterstück von Reza. Er fragt immerzu: Was soll das – Ist das Kunst?
Ich habe diese Einleitung gewählt, um Jessica Maria Tolivers Bilder zu verstehen, weil sie uns auch einen Schnitt zeigen. Zwar keinen brutalen, temperamentvollen Schnitt in das Gemälde wie bei Fontana, dafür aber eine Schnittweise in ihren Bildkonstruktionen. Ich sehe als jemand, der aus der Mathematik kommt, in ihren Arbeiten ein brutales, geometrisches Muster am Werk, fast schon einen chirurgisch präzisen Schnitt, der im Gesamteindruck einiges nach vorne bringt und anderes zugleich verbirgt.
Ihre Bilder sind sehr intim, die Künstlerin wählt für die Abzüge mehrere Fotografien aus, zeigt aber nur einen kleinen Bereich der einzelnen Fotos, einen vergrößerten Ausschnitt, der jedoch nichts vom Original zensiert. Es ist eine Form von geschnittener Fotografie, wenn man so will, es ist szenisch. Meine Gedanken führten mich beim Betrachten immer wieder zum Film Die fabelhafte Welt der Amelie, in dem Bilder aus Passbildapparaten auftauchen und zerrissen werden. Amelie setzt sie dann wieder zusammen, doch anders. Der Schnitt hat die Fotos verändert, sie sind nicht mehr dieselben.
Es geht dabei nicht um Zufall. Die Schnitte in Tolivers Bilder erzeugen präzis durchgeführte, vertikale und horizontale Linien. Wie ein Chirurg, der am OP-Tisch steht, ein Messer nimmt und einen gezielten ersten Schnitt setzt. Ganz bewusst bearbeitet sie die großen Fotografien, auch sie tritt mit dem Skalpell an sie heran und tätigt einen bewussten Schnitt, nicht nur in das Motiv, in das ganze Bild. Der erste Schnitt trennt dabei das Motiv vom Rest des Originals, der zweite das Motiv selbst. Die Intimität jedweder Ursprungsszene wird dadurch eliminiert, übrig bleibt nur eine Ahnung, ein nahezu abstrakter Teil des eigentlichen Ganzen.
Ihre Bilder haben bei dieser Art der Komposition auch etwas mit Rhythmus zu tun. Man sieht mal einen ganzen Kopf, mal einen Vorhang, doch immer mit Schnitten davor. Dadurch fällt bei der Betrachtung regelmäßig, fast rhythmisch auch ein Vorhang im Betrachter, der Fokus changiert und führt vom Schnitt vor den Motiven auf die einzelne Bildteile, vielleicht auch auf die Vorstellung eines geschnittenen Finger, wie man sich ihn an Papier schneidet, an etwas, das richtig weh tut, einen hässlichen Schmerz. Es ist dabei immer etwas vorgestellt und etwas anderes im Hintergrund, mal das Motiv, mal der Schnitt, mal die Vorstellungen selbst.
Verharrt man bei dem dem Vorhang-Bild, präsentieren sich in ihm quasi drei einzelne Teile durch die übereinander gelegten Blätter. Es ändern sich die Schatten in den unteren Teilen der Bilder, je nachdem, von wo man schaut. Plastizität und Dreidimensionalität entsteht durch die bewusste Trennung eines Motivs. Fast ist ein leichter Wind zu spüren, der den Vorhang bewegt, eine ruhige Atmosphäre, vor allem im Gegensatz zu den anderen Bildern. Ich war und bin tief beeindruckt von ihrer Arbeit.
Mir schoss beim Betrachten ihrer Bilder einmal auch der Film Das Fenster zum Hof von Alfred Hitchcock in den Kopf. Die Vorstellung also von einen Person, die direkt am Fenster sitzt und ein Haus gegenüber betrachtet. Was diese Person in fremdem Wohnungen sieht, sind ganz intime Momente: Nackte Frauen, einmal sogar einen Mord. Ich fühle mich beim Einblick in Jessicas Bilder in eine solche eindringende Perspektive versetzt. Ihre Bilder sind, übrigens anders als die Bilder Fontanas, in einer Art Hitchcock-Dramaturgie präsentiert. Mit ihnen dringt man, wie am OP-Tisch, in die Körper und Lebensumstände fremder Menschen ein.
Text. Oscar Ledesma
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